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Eine Hommage an Johann Weninger

Johann Weninger war der Leiter der Chemieabteilung in den ersten Jahren der Existenz des IPN.

Ich lernte Johann Weninger 1972 kennen. Auf der einen Seite faszinierte er mich durch seine Art zu denken, die die gründlichste und genaueste war, die ich je kennengelernt hatte. Auf der anderen Seite war Johann Weninger ein schwieriger Mensch. Er war ein Rechthaber, sein Problem war: er hatte fast immer Recht, da er gründlicher und genauer über Probleme nachdachte, als die meisten seiner Mitarbeiter. Aber wenn er einmal nicht recht hatte, war es sehr schwierig, mit ihm zu diskutieren.

Aufgefallen ist er gleich zu Anfang durch seinen Hinweis, dass das Wort „Stoffmenge" ein sehr problematischer Begriff ist. „Stoff" ist etwas kontinuierliches, „Menge" ist etwas abzählbares. Diese beiden Begriffe zusammenzufassen zu dem Begriff „Stoffmenge" verwirrt vor allem Lernende, da sie einerseits im makroskopischen Bereich über Materie als Stoff nachzudenken haben, gleichzeitig aber im mikrophysikalischen Bereich an Atome oder Moleküle als abzählbare Mengen. Der Begriff "Stoffmenge" ist Bestandteil der Definition des Mol. Laut Wenninger ist die Verwendung dieses Begriffs ein Grund, warum das stöchiometrische Rechnen den meisten Schülern so schwer fällt. Dieser Begriff bezieht sich sowohl auf einen Stoff, nämlich 16g Wasserstoff und gleichzeitig auf eine abzählbare Menge, nämlich 6x10 23 Atome bzw. Moleküle.

Weninger schuf den Begriff „Stoffportion" als Ersatz für den Begriff "Stoffmenge". Er war Mitglied vieler Normkommissionen und setzte sich in dieser Sache und in vielen anderen erfolgreich durch.

Das Hauptziel seiner Arbeit in den ersten Jahren seiner Tätigkeit am IPN war die Entwicklung eines umfassenden Curriculums für den Chemie-Unterricht der Sekundar- und Oberstufe. Diese Zielsetzung entsprach dem damals im IPN vorherrschenden «Zeitgeist». Es galt, den angeblichen Vorsprung der Ostblockländer, vor allem der damaligen DDR, auf dem Gebiet der naturwissenschaftlichen Bildung auf- und zu überholen. Nach dem Vorbild der Amerikaner mußten die Lehrpläne aktualisiert und der zu lehrende Stoff modernisiert werden. Da man dies den Lehrern nicht zutraute, wurden Curricula für einzelne Stoffgebiete mit detaillierten Angaben für Abläufe, Schülermaterialien und Testvorschlägen entwickelt, die in der Regel mehrfach erprobt und revidiert wurden. Das Chemie -Curriculum von Herrn Weninger wurde meines Wissens garnicht oder nur bruchstückhaft erprobt. Es entstand an Weningers Schreibtisch und entwickelte sich zu einem mehrbändigen und umfangreichen Werk. Trotz all der guten Ideen und wertvollen Erkenntnisse ereilte dieses Werk das gleiche Schicksal wie all die anderen am IPN entwickelten Curricula.

Es zeigte sich bald, das heißt nach wenigen Jahren, dass man die Professionalität der Lehrer und deren Bedürfnis nach Eigenständigkeit und Selbständigkeit falsch eingeschätzt hatte. Meines Wissen sind keine der damals entwickelten Curricula weiter gepflegt worden und inzwischen wohl alle vergriffen.

Weninger hat sich dann in den letzten Jahren seiner beruflichen Tätigkeit allgemeinen Fragen der Fachdidaktik Physik und Chemie zugewandt und die Summe seines Wissens in insgesamt drei Bänden niedergelegt. Veröffentlicht wurden diese Bände in einem damals noch existierenden IPN-eigenen Verlag, in der Reihe "IPN-Materialien". Diese Bände sind seit einiger Zeit vergriffen. Da die Reihe nicht forgesetzt wurden (der «Zeitgeist» hatte sich im IPN grundlegend geändert) gerieten diese Bände in Vergessenheit. Eine Übertragung ins Netzt fand nur bruchstückhaft statt.

Dabei ist das, was Weninger in diesen drei Bänden niedergelegt hat, meiner Meinung nach bei weitem das Beste, was als Fachdidaktik im engeren Sinne im IPN und darüber hinaus erschienen ist. Fachdidaktik im engeren Sinne soll heißen, dass es nicht um die Umsetzung bestehender Lehrbuchinhalte in Unterrichtsgeschehen handelt, und nicht um die detaillierte Untersuchung von sogenannten Schülervorstellungen, sondern um eine kritische Aufarbeitung der Lehrbuchinhalte selbst hinsicht vor allem einer angemessenen Begriffsbildung und einer sachgemäßen Differenzierung.

Hier die Ausführungen Weningers zu seiner Vorstellung von der Aufgabe der Fachdidaktik:

    «Wie schon angedeutet, werden die Schwierigkeiten beim Umgehen mit Größen weniger durch mathematische Ansprüche bedingt; sie beruhen mehr auf begrifflich-terminologischen Unzulänglichkeiten. Diese werden bis jetzt zu wenig Ernst genommen. Es wird im allgemeinen zu wenig beachtet, daß nicht nur die Vermittlung, sondern auch schon die Gewinnung von Erkenntnissen weitestgehend mit Hilfe der Sprache erfolgt. Deshalb wird im Folgenden in erster Linie eine sprachliche Untersuchung durchgeführt werden. Sprachanalytische Betrachtungen unterstützen nicht nur fachliche Klärungen; sie sind sogar ein unverzichtbarer, wenn auch oft vernachlässigter Teil der fachlichen Bemühungen.

    Die folgenden vorwiegend didaktisch motivierten, aber um größtmögliche fachliche Klarheit bemühten Untersuchungen werden deshalb vorwiegend begrifflich-terminologischer Art sein und nebenher zeigen, daß auch die Fachdidaktik nicht ein Anhängsel, sondern ein wichtiger Teil der Fachwissenschaft ist: Was man nicht verständlich vermitteln kann, hat man noch nicht zutreffend verstanden».

Ein kleines Beispiel, an dem die Genauigkeit des Vorgehens und Denkens Weningers aufgezeigt werden kann, ist die Art, wie er Textteile kennzeichnet, die aus verschiedenen Gründen vom umgebenden Text abzuheben sind.

    - Wörtliche Wiedergaben werden durch die Anführungszeichen «...» gekennzeichnet.

    - Eine Sache, die zusammen mit einem übergeordneten Begriff aufgeführt wird, wird zwischen die Anführungszeichen "..." gesetzt.(Die Zahl "3" ist ungerade)

    - Ausdrücke, die in einer ungeläufigen Bedeutung gebraucht werden oder die das Gemeinte nicht präzise treffen oder die scherzhaft oder ironisch gemeint sind, werden zwischen hochgestellte Doppelpunkte : : gesetzt (Der Wagen fährt mit 90 : Sachen : durch die Kurve).

Bei dem dritten Beispiel kann man einwenden, dass dieser hochgestellte Doppelpunkt nicht sehr deutlich erkennbar ist und das Schreiben kompliziert und man kann der Meinung sein, der Leser wüßte schon, was jeweils gemeint sei. Ob das zutrifft, sei dahingestellt. Rein rational ist nichts gegen Weningers Verfahren einzuwenden.

An anderer Stelle antwortet Weninger auf Einwände gegen den Gebrauch klar definierter Worte und Verfahren wie folgt(Seite 38)

    «Da es Diskussionspartner gibt, die sich gegen eine Diskussion mit klar definiertem Wortgebrauch sträuben, sei noch das Folgende gesagt. - Wer sich klar ausdrücken will und deshalb die von ihm mit bestimmten Namen bezeichneten Begriffe präzise zu definieren sucht, tut das, was bei einer Diskussion, die zu weiteren Erkenntnissen führen soll, erforderlich ist: Er sagt, welchen Begriff er selber von einer Sache hat, damit er angreifbar ist, sagt damit aber nicht, daß sein Begriff der einzige sei, den man von einer Sache haben dürfe. Nur wenn jeder Diskussionspartner seinen Begriff von der Sache klar darlegt, kann die Diskussion erfolgversprechend geführt werden und ergibt sich die Möglichkeit, Begriffe zu erarbeiten, die fruchtbarer sind als die zunächst verwendeten, also Begriffe, die ein weiterführendes Verständnis der Sache gedanklich bündeln. Da wir spätestens seit Karl Raimund Popper wissen, daß jede Erkenntnis der empirischen Wissenschaften eine grundsätzlich nur vorläufige Erkenntnis ist, wähnt wohl kein ernstzunehmender Naturwissenschaftler, sich im Besitz der unumstößlichen Wahrheit zu befinden. Das schließt aber nicht aus, sondern erfordert sogar, daß wir in der wissenschaftlichen Diskussion den jeweiligen Wortgebrauch klar definieren. Wer sagt, daß man nur mit weitgehend «offen gelassenen Begriffen» fruchtbar diskutieren könne, setzt sich dem Verdacht aus, sich selber überhaupt noch keinen Begriff von der Sache gemacht zu haben oder sich von der Sache gar keinen präzisen Begriff machen zu wollen».

     

    Dem ist nichts hinzuzufügen.

     

    Nachdem die drei Bände eingescannt waren, habe ich den einzelnen Abschnitten jeweils einen kurzen Kommentar vorangestellt, der die Entscheidung für oder gegen das vorliegende Thema erleichtern soll.

    Der Zugangslink:

    http://www.astrophysik.uni-kiel.de/~hhaertel/PUB/Ausbildung/index.htm

    Aufgegriffen und beantwortet werden unter anderem die folgenden Fragen:

    • Wieviele unterschiedliche Arten von Gleichungen gibt es?

    • Wieviel unterschiedliche Arten von physikalischen Gesetzen gibt es?

    • Warum ist das Bedürfnis nach Kürze eines Ausdrucks nicht unbedingt didaktisch hilfreich?

    • Was ist das Besondere an orientierten Größen im Vergleich zu gerichteten Größen (Vektoren)?

    • Was ist das Besondere am Größenkalkül im Vergleich zum Kalkül mit Anzahlen, Mengen und Werten?

    • Was bedeutet ein Name, was meint ein Name, was ist ein Begriff?

    • Gibt es negative Geschwindigkeiten? Was ist eine imaginäre Zahl, was eine komplexe Zahl?.....und vieles mehr.

    Zusammenfassend gilt für mich, dass das, was Weninger in diesen Bänden zusammengetragen hat, eine Art Goldgrube der Fachdidaktik darstellt und einen fruchtbaren Boden für intensive Diskussionen, gute Forschungsfragen und wertvolle Erkenntnisse.

    Hermann Härtel (haertel@astrophysik.uni-kiel.de)
    Gastwissenschaftler am ITAP - Universität Kiel

    Die drei Bände, von denen im folgenden die Rede sein wird,
    tragen den gemeinsamen Titel:

    Grundlegung eines verständigen Umgehens
    mit Größen und Größengleichungen

    Kommentare von Hermann Härtel
    ehemaliger IPN-Mitarbeiter,
    derzeit Gastwissenschaftler am ITAP
    Institut für Theoretische und Astrophysik, Universität Kiel

    Der erste Band trägt den Untertitel:

    Skalare Größen.
    Kalkülsprache und Wirklichkeit

    Der zweite Band trägt den Untertitel:

    Ausmaß-Vorzeichen-Kombinate.
    Nullpunktgebundene Angaben

    Der dritte Band trägt den Untertitel:

    Größengleichungen und Größenproportionen.
    Rechnen mit Werten, Mengen und Anzahlen.
    Größenrechnen in der Chemie